Stadt Menschen

Curth Ehrhardt - Zigeuner in Kirchmöser
Curth Ehrhardt - Zigeuner in Kirchmöser - 1921 - Öl auf Holz mit Pappcollagen - 53x72 cm

Stadt Menschen

Stadtraum bedeutet nicht nur Topografie, er ist auch immer Lebensraum von Menschen. Menschen und ihre Begegnungen beleben erst das Ensemble von Straßen, Kirchen, Marktplätzen, von Kiosken, Brücken, Hinterhöfen und Arbeitsstätten. Sie treffen sich, diskutieren, feiern, sitzen und schauen, gehen spazieren, flanieren, eilen, erledigen Besorgungen, gehen und kommen und arbeiten an den unterschiedlichsten Orten. Die Künstler haben Menschen zu allen Zeiten aus sehr unterschiedlichen Motiven eingefangen und dargestellt, als Statisten für die Belebung des Bildmotivs, zur Verstärkung einer bildlichen Aussage, als Ausdrucksmittel für eine bestimmte Atmosphäre oder aus Interesse am Menschen als Motiv selbst. Das Portrait oder das Gruppenbild bilden den engsten Ausschnitt aus diesem Zusammenhang, der Maler konzentriert sich auf einen oder mehrere Menschen, um diese wie auch immer zu dokumentieren, zu beschreiben oder zu interpretieren. Viele Darstellungen von Menschen in der Stadt sind auch Zeugnisse ihrer Zeit, nach bestimmter Mode gekleidet und mit zeitgenössischen Attributen versehen.

Gruppenzusammensetzungen von Arbeitern und Soldaten im Stadtbild dokumentieren zum Beispiel Lebensverhältnisse in den Nachkriegsjahren, Darstellungen von Demonstrationen oder Menschen bei der Arbeit können Beispiele persönlicher Überzeugung sein, viele erfüllen auch propagandistische Zwecke.

Jürgen Lutzens - Sommerabend
Jürgen Lutzens - Sommerabend - 1968 - Öl auf Hartfaser - 52x62 cm

Curt Ehrhardts „Zigeuner in Kirchmöser“ sind eine kubistische Collage, eine unter dem Einfluss der Berliner Sturmkünstler entstandene Komposition, deren soziale Aussage mit dem Thema Mond korreliert. Die Menschen bilden mit den Häusern im Hintergrund ein Kaleidoskop aus farbigen Flächen, das durch die bruchstückartig aufgeklebten Papierstücke fast plastisch wirkt. Die beiden Protagonisten scheinen sich unter einen das Bild dominierenden roten Mond im oberen rechten Bildteil zu ducken, argwöhnisch beäugt von einer dritten Person. Buntes Leben, eine starke Dynamik, Andersartigkeit und Ausbruch aus dem Alltäglichen korrespondieren mit Ausgrenzung und der Suche nach Geborgenheit, ein universelles und ewig aktuelles Grundthema, das Ehrhardts gesamtes Werk durchzieht.

„Die Freunde“ von Horst Wall haben sich 1969 in seinem Atelier getroffen. Es sind Bodo Henke, Peter Schulz, Horst Wall, Wolfgang Kießler und ein Modell. Neben den Verbandskünstlern gab es in der Stadt einen Freundeskreis von Malern und Kunsterziehern, die sich zu regelmäßigen Konversationsabenden trafen. Zu den genannten sind hier noch Volker Schulz, Wilfried Schwarz, Jürgen Lutzens und der nach der Haft in Bautzen früh gestorbene Heinz Dudel zu nennen. Niemand nahm bei diesen Treffen ein Blatt vor den Mund. Dass sie von der Stasi bespitzelt wurden, erfuhren sie erst nach der Wende.

Horst Wall - Die Feunde (Im Atelier)
Horst Wall - Die Feunde (Im Atelier) - 1969 - Öl auf Hartfaser - 55,8x77 cm

Jürgen Lutzens „Sommerabend“ ist ein poetisches Bild mit Widersprüchen, die der Maler 1968 auf der Schleusenkanalbrücke auch selbst empfand. Dominierend steht eine statische Laterne auf der Brücke, darunter schaut ein ebenfalls statischer grauer Mann nach unten ins Leere, der Künstler selbst. Er sieht nicht auf sein künstlerisches Alter Ego, die träumende, ganz versunkene Frau mit dem Blütenzweig neben ihm auf der Bank. Eine melancholische Sehnsucht verbindet die beiden, während der Sommerabend im Bild einige ins Auge fallende Details aufweist. Am linken Ufer liegen in Korrespondenz zu der Frau und dem Mann auf der Brücke ein gelbes und ein graues Ruderboot, als Alternative rudert ein Paar gemeinsam den Kanal entlang. Links oben grüßt ein bunter Sonnenschirm wie ein unbeschwerter Farbtupfer vom Balkon, rechts fliegt eine Möwe vor dem Schornstein der Feinjutefabrik aus dem Bild ins Ungewisse, Freie… Diesen Blick hatte Lutzens jeden Abend, wenn er in den 1960er Jahren mit Curt Ehrhardt nach Hause ging. Die Nachdenklichkeit, die sein Bild ausstrahlt, wird durch die kulissenhafte, expressive Naivität der Baumreihe am Ufer noch verstärkt: Was ist wahr, was ist Traum? Die davonfliegende Möwe kündet auch vom Ende, dem Ende des Tages und dem Ende des Sommers. Und sie kündet vom Davonfliegen der Träume und Eindrücke.